Brasilien: 1. Rundbrief von Hannah Brill
Brasilien
Hannah Brill
10.12.2023
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Hallo liebe Leser:innen,

wo soll man eigentlich anfangen zu erzählen, wenn man schon seit fast vier Monaten in einem anderen Land lebt und sich das Leben dabei um gefühlte 180 Grad gedreht hat? Schon jetzt konnte ich so viele neue Erfahrungen sammeln, dass es den Rahmen hier definitiv sprengen würde, jede einzelne davon ausführlich zu erzählen.

Die Anreise hierher war begleitet von vielen offenen Fragen, Vorstellungen und Träumereien über das bevorstehende Jahr – auf einem anderen Kontinent, in einer anderen Kultur und weit entfernt von all meinen liebsten Menschen (fühlt euch an dieser Stelle ganz feste gedrückt). Dass das aufregend und gleichzeitig auch beängstigend war, können sich die meisten von euch bestimmt gut vorstellen. Mittlerweile wurden viele meiner Fragen beantwortet und die Vorstellungen konnten mit der Realität verglichen und angepasst werden.  

Während ich das schreibe, sitze ich am Rande des Kirchplatzes im Zentrum von Pedro II. Die Kirche Igreja Nossa Senhora da Conceição ist ein Gebäude, welches besonders hervorsticht. Sie ist blau-weiß gekachelt und mit einem Kreuz auf dem Kirchturm versehen, welches jeden Abend hell erleuchtet ist. Regelmäßig ertönt durch die großen Lautsprecher der Kirche laute Musik, teilweise schon um 6 Uhr morgens. In diesen Momenten bin ich meinen Ohropax doch sehr dankbar. Ansonsten ist der Platz umgeben von vielen kleinen Häusern, jedes in einer anderen Farbe gestrichen.

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Igreja Nossa Senhora da Conceição

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Bunte Häuser am Rande des Kirchplatzes

Neben dem Zentrum gibt es elf weitere Stadtviertel. Um die Stadt herum gibt es das ländliche Gebiet, das Interior, welches den größten Teil des Kreisgebietes von Pedro II ausmacht. Ein Großteil der Familien im Interior lebt von der Landwirtschaft und der Tierhaltung.

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Beispiel eines Gartenbeetes auf dem Land, hier wachsen Schnittlauch, Koriander, rote Beete und Zwiebeln

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Ziegen, Schweine und Hühner sind nichts Ungewöhnliches auf den Straßen der Dörfer

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System zum Bewässern von Pflanzen, welches zudem Schatten spendet.

Projekt und Alltag

Zusammen mit Teresa, meiner Mitfreiwilligen, wohne ich im Haus von Maria und Lucia. Maria kommt aus Deutschland und ist eine der Mitbegründer:innen von Mandacaru, meiner Projektstelle. Nebenan lebt Marlene, welche als Kleinkind von den beiden aufgenommen und großgezogen wurde, mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen.

Ausflug zum Anschauen des Sonnenuntergangs

Abschlussfeier im Kindergarten von Thomas, Marlenes jüngstem Sohn

Morgens um kurz nach 7 Uhr nimmt uns Marlene mit in den Kindergarten Asa Branca. Der Kindergarten besteht aus fünf Vormittags- und vier Nachmittagsgruppen. Die Erzieherinnen sind alle super freundlich, hilfsbereit und haben uns direkt gut integriert. Die Kinder sind wie Kinder eben sind: neugierig, spielen gerne, wollen kuscheln und sind laut.  Neben freier Spielzeit werden im Kindergarten auch erste Schreibübungen durchgeführt und alltagsnahe Themen wie Natur oder Verkehr spielerisch besprochen. Zweimal die Woche hatten Teresa und ich hier auch Portugiesischunterricht mit einer Lehrerin, die neben Vokabeln und Grammatik auch Unterhaltungen auf Portugiesisch mit uns geübt hat. 

Freies Spielen mit Legoklötzen

Übungsstunde zum richtigen Verhalten an einer Ampel

Zum Mittagessen werden wir in die Ökoschule Thomas á Kempis gefahren, da der vier Kilometer lange Weg zu Fuß zu weit, und bei 34 Grad auch nicht besonders angenehm wäre. Schüler:innen und Lehrer:innen essen in der Schule gemeinsam draußen in einem überdachten und gefliesten Bereich. Das Mittagessen besteht hier und generell im Nordosten Brasiliens eigentlich jeden Tag aus Reis, Bohnen und dazu abwechselnd Hühnchen, Schwein oder Rind, auf verschiedene Arten zubereitet. Zum Nachtisch gibt es meistens Rapadura, eine Süßigkeit, die durch das Verkochen von Zuckerrohrsaft bei hohen Temperaturen gewonnen wird.

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Hier findet täglich das Mittagessen statt. Im Hintergrund sieht man das Sportfeld der Schule, auf dem gerade die Capoeira- AG stattfindet. Capoeira ist eine brasilianische Kampfkunst bzw. ein Kampftanz.

Nach dem Mittagessen haben sowohl Teresa und ich als auch die Schüler:innen eine Stunde Mittagspause. Diese verbringen wir meistens mit ein paar Schüler:innen aus der Oberstufe, mit denen wir uns auf gebrochenem Portugiesisch unterhalten. Das Lernen einer neuen Sprache hat sich für mich als schwieriger herausgestellt als ich es mir anfangs vorgestellt hatte, allerdings merke ich so langsam, dass ich immer mehr verstehe und auch das Sprechen einfacher wird. Außerdem sind die Menschen um mich herum sehr geduldig und geben mir nie ein blödes Gefühl, wenn ich etwas länger zum Verstehen oder Sprechen brauche. Ganz im Gegenteil, die meisten Menschen ermutigen mich immer wieder und freuen sich, sich zu unterhalten.

Zurück zur Schule. In den ersten Wochen haben wir viele Einblicke in die verschiedensten Unterrichtsfächer bekommen, in der Küche geholfen und, falls ein Lehrer oder eine Lehrerin ausgefallen ist, Englisch- oder Sportunterricht mit den Schüler:innen gemacht. Was mit einer Handvoll portugiesischer Wörter oft eine Herausforderung war, die wir aber zusammen gut gemeistert haben. Zurzeit unterstütze ich in der Schule meistens die Köchinnen beim Essen vorbereiten, Brot backen, spülen und Bohnen sortieren.  

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Dreimal wöchentlich wird frisches Brot gebacken, das es zum Frühstück gibt und das auch auf dem Wochenmarkt verkauft wird.

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Bereich der Außenküche, in dem gespült wird und Lebensmittel vorbereitet werden

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Brot backen macht definitiv mehr Spaß als Bohnen sortieren

An einigen Tagen habe ich auch in die Landwirtschaftsbereiche der Schule reingeschnuppert. In den nächsten Wochen möchte ich meine Tätigkeit dort gerne noch ausweiten, um mich in den Schulferien im Garten der Schule und bei der Kleintierhaltung nützlich machen zu können. Dieser Bereich ist immerhin eines der Aushängeschilder der Ökoschule und wirklich etwas Besonderes. Alle Schüler:innen haben im Wechsel morgens und nachmittags die Aufgabe, hier mitzuarbeiten. Sie lernen dabei, Futter herzustellen, Gemüse anzubauen, sich um Pflanzen zu kümmern, wozu verschiedene Heilpflanzen dienen und vieles mehr.

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Mandacaru hat neben dem Kindergarten und der Ökoschule auch den Bereich der Agricultura Familiar (Kleinbäuerliche Landwirtschaft) und betreibt außerdem Bibelarbeit. Wenn dort etwas Besonderes ansteht, werden wir oftmals mitgenommen und bekommen so einige Einblicke in das Leben im Interior. Diese Tage sind häufig eine ganz besondere und wertvolle Erfahrung. Bei einem dieser Besuche ist mir vor allem ein Satz im Kopf hängengeblieben, der übersetzt in etwa lautet: „Wir haben nicht viel Geld, aber wir sind glücklich“. An diesem Tag waren wir zur Zeit der Maniokernte bei einer Bauernfamilie. Aus der Maniokwurzel werden zwei Produkte gewonnen: Maniokstärke (auch als Tapiokastärke bekannt) und Farinha (eine Art körniges Maniokmehl). Bei unserem Besuch durften wir bei allen Arbeitsschritten helfen. Zuerst werden die Maniokwurzeln geschält, danach geschreddert und in einem großen Becken gewässert. Anschließend wird die eingeweichte Masse in einer Konstruktion aus gespannten Leinentüchern und Auffangbecken ausgewaschen. In den Auffangbecken setzt sich die Stärke nach einiger Zeit am Boden ab. Das Wasser wird ausgeschüttet und die Stärke in der Sonne getrocknet. Die Masse, die in den Leinentüchern überbleibt, wird in einer Presse ausgedrückt und daraufhin auf einem großen Feuerofen getrocknet – dieses Produkt ist das Farinha und aus der brasilianischen Küche nicht wegzudenken. Die Arbeit dauert von morgens bis abends, ist ohne große Maschinen durchaus körperlich anstrengend und alle packen mit an. Die Stimmung war familiär, offen, gelassen und wirklich schön.

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Ungeschälte Maniokwurzeln, die noch geschält und geschreddert werden müssen.

Die geschredderten Wurzeln

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Mir wird beigebracht, wie man die eingeweichte Maniokmasse auswäscht.

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In der Sonne wird das Wasser abgegossen und die Stärke getrocknet.

Das restliche Wasser wird aus der übergebliebenen Maniokmasse gepresst.

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Backen bzw. Trocknen der ausgepressten Masse.

Freizeit

Neben dem Projekt haben wir unter der Woche nachmittags ab 5 Uhr  und an den Wochenenden natürlich auch freie Zeit zur Verfügung. Unter der Woche nutze ich diese meistens, um meine Wäsche zu waschen, ein wenig Sport zu machen oder, nicht anders als zuhause auch, einfach mal eine Serie zu schauen. Außerdem gibt es in der Nähe unseres Hauses einen beleuchteten Weg für Fahrradfahrer und Fußgänger. Während des Sonnenuntergangs gehe ich hier abends auch gerne eine Runde spazieren.

An den Wochenenden machen wir hin und wieder gemeinsame Ausflüge mit unserer Gastfamilie und wurden auch einige Male von verschiedenen Leuten des Mandacaru-Teams zum Essen eingeladen. So konnten wir sehen, wo sie wohnen, ihre Familien kennenlernen und gemeinsam einen schönen Tag verbringen. Vor einigen Wochen war Max, ein ehemaliger Freiwilliger, zu Besuch. Zusammen mit ihm, einem seiner damaligen Freunde und ein paar Schüler:innen sind wir zu einem Wasserfall gewandert. Der Weg war bei 35°C und den vielen Steinen, über die man klettern musste, eine kleine Herausforderung, die sich aber wirklich sehr gelohnt hat. Am Fuße des Wasserfalls konnten wir uns im kalten Wasser abkühlen, etwas schwimmen und die Natur bewundern.

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Sonnenuntergang bei einem Abendspaziergang um ca. 18 Uhr

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Wasserfall von Urubu Rei

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Wanderung zum Wasserfall

Ein anderes abwechslungsreiches Wochenende war Teresas und mein erster mehrtägiger Ausflug nach Teresina, der Hauptstadt des Bundesstaates Piauí. Nachdem wir abends in Pedro II mit ein paar Leuten einen Auftritt einer Musikgruppe besucht haben, sind wir am nächsten Mittag in den Bus gestiegen und ca. vier Stunden nach Teresina gefahren. Dort am Busbahnhof hat uns Bea, die Tochter einer Lehrerin der Ökoschule, abgeholt. Bei ihr durften wir auch die nächsten zwei Tage übernachten. Am Abend sind wir gemeinsam mit ihr und ihren Freundinnen ausgegangen und am nächsten Tag haben wir uns die Stadt angeschaut. Wir haben das Museum über die Stadtgeschichte besucht und uns im klimatisierten Einkaufszentrum ein wenig vor der Hitze gerettet. Teresina ist wirklich heiß! An diesem Wochenende habe ich auch gelernt, dass Pedro II anscheinend die oder eine der „kältesten“ Städte hier im Bundesstaat ist.

Museum: Ausgestellte Krüge, Becher und Schöpfkellen für Trinkwasser. Heutzutage in dieser Form eher selten zu finden.

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Teresa (rechts) und ich nach einem kurzem Besuch bei einem Piercer.

Ich hoffe, ich konnte euch mit diesem Brief einen groben Überblick über meinen Wohnort, meinen Freiwilligendienst und mein momentanes Leben hier bieten. Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich bei meiner Entsendeorganisation SoFiA e.V. und meiner Projektstelle Mandacaru bedanken, durch die diese Erfahrung überhaupt erst ermöglicht wird. Ich freue mich, in den nächsten Briefen noch mehr berichten zu können und bin gespannt, was ich die nächsten Wochen und Monate noch alles erleben werde.

Bis dahin wünsche ich euch allen ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr!

Beste Grüße und bis bald,

Hannah